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Diese IT ist die Ursache für die digitale Katastrophe im deutschen Gesundheitssystem
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Das Gesundheitswesen hat sein eigenes Internet – allerdings basiert es auf Technologie von vorgestern. Ärzte, Patienten und Apotheker verzweifeln an dem Bürokratiemonster Telematikinfrastruktur.
Düsseldorf. Thilo Heising ist Kinderarzt im baden-württembergischen Aalen. Er führt schon lange eine Gemeinschaftspraxis, ist ein gut informierter Mediziner, aber wenn es um die Telematikinfrastruktur (TI) geht, wird er radikal – Heising verweigert sich dem Internet für das Gesundheitswesen.

„Die Technik ist viel zu unzuverlässig“, sagt er über die TI, die eigentlich die Zusammenarbeit zwischen Praxen, Krankenhäusern und Apotheken erleichtern soll. Die medizinische Versorgung in Deutschland sicher vernetzen, dafür ist sie da. Medizinische Dokumente sollen schnell und unkompliziert versendet werden können.

Das klingt schlüssig, funktioniert in der Realität aber häufig nicht: Die Technik ist teilweise alt, viele Akteure sind an ihr beteiligt und es gibt keinen Zuständigen, der für Probleme verantwortlich ist.

Häufig komme es zu Störungen, berichtet Heising. Der Aufwand sei für ihn hoch, sich an die TI anzuschließen – dafür habe er keine Zeit. „Einige Patienten bedauern zwar, dass sie von mir kein E-Rezept bekommen, aber den Arzt gewechselt haben sie bisher auch nicht“, sagt Heising, der für seinen Verzicht sogar Geld bezahlt: Jedes Quartal kürzt die Kassenärztliche Vereinigung Heisings Honorar um rund 2000 Euro, weil er die TI nicht nutzt.

Heising gehört zu einer kleinen Gruppe, die Mehrheit aller Ärzte und Apotheker ist an die Telematikinfrastruktur angeschlossen. Der Kinderarzt ist aber nicht allein mit seinem Frust: Viele sind mit dem System unzufrieden.
Die Telematikinfrastruktur: Eine fast 20 Jahre alt Technik macht Probleme

Laut einer Studie des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Vereinigung vom Dezember 2023 berichtete fast die Hälfte der Ärzte von Softwareproblemen, die mit der TI in Verbindung stehen. Beim E-Health-Monitor von McKinsey vom Januar 2024 haben gar mehr als zwei Drittel aller Ärzte und Apotheken wöchentlich bis täglich technische Schwierigkeiten.

Bei der TI wird die Sicherheit vergleichsweise hoch gesetzt, an die Nutzer wird eher nachrangig gedacht. Dazu sind viele Teile der TI technologisch noch nicht auf dem Stand der Zeit.Peter Gocke, Digitalchef der Charité Berlin, arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Krankenhaus-IT. Teile der TI nennt er „veraltet". „Die Technik wurde 2005 konzipiert und entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen“, sagt Gocke. Dabei ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens eines der größten Reformvorhaben der Bundesregierung – ein wichtiges, drängendes Thema, denn die digitale Verfügbarkeit von Patientendaten verbessert Diagnosen und erhöht Heilungschancen.

Und: Ab dem 15. Januar 2025 sollen alle Mitglieder einer Krankenkasse eine elektronische Patientenakte bekommen. Diese ist mit der TI verbunden und muss über Jahre hinweg viele Daten speichern: Rezepte, Medikationslisten, Labordaten, Befunde, Röntgenbilder. Die Telematikinfrastruktur muss also funktionieren, doch schon die Strukturen hinter ihr sind nur schwer zu verstehen.

Verantwortlich für Aufbau, Betrieb und Weiterentwicklung der TI ist die Firma Gematik mit Sitz in Berlin. Sie gehört mehrheitlich dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Die übrigen Anteile liegen bei Krankenkassen, Ärzte-, Zahnärzte- oder Apothekervertretern.

Die Gematik entwickelt in der Regel keine eigenen Produkte, sondern bestimmt im Auftrag des BMG, wie die Produkte technisch funktionieren müssen. Das führte in den vergangenen Jahren dazu, dass sich zahlreiche Unternehmen in der Telematikinfrastruktur zusammengefunden haben, zum Beispiel IBM

, T-Systems, oder Bitmarck.

„Bei so vielen Beteiligten ist es eine Herausforderung, Störungen nachzuvollziehen“, sagt Mark Langguth, ehemaliger Gematik-Mitarbeiter und heute Branchenberater. Es ist ein komplexes Zusammenspiel, das für Ärger sorgt.
E-Rezept: Gute Idee mit Störungen

Ein Beispiel: das elektronische Rezept. Seit Januar können Ärzte Medikamente digital verordnen. Davor mussten Patienten die rosafarbenen Papierrezepte in der Arztpraxis abholen. Heute reicht ein Anruf, wenn die Patientin im Quartal schon einmal in der Praxis war. In der Apotheke muss sie dann nur ihre Karte in ein Lesegerät schieben – und schon erscheint das Rezept. Über 100 Millionen E-Rezepte wurden in diesem Jahr laut Gematik eingelöst.

Ein voller Erfolg? Mitnichten. In der Realität können Apotheker sie oft nicht abrufen und Ärzte wissen nicht warum. Als in den vergangenen Wochen in den frühen Morgenstunden gar nichts mehr funktionierte, druckten Ärzte im Rheinland wieder Papierrezepte aus.

Laut der Gematik verursachten Anwender und eine beteiligte Fima die Störung. „Die Telematikinfrastruktur ist und war zu keinem Zeitpunkt einer Überlastung ausgesetzt“, teilt die Gesellschaft mit.

Einen Verantwortlichen zu finden, das ist in diesem System nicht einfach. Berater Langguth kennt den technischen Prozess und erklärt: „Beispielsweise sind für ein einzelnes E-Rezept, von der Ausstellung bei einem Arzt bis zur Einlösung in der einen Apotheke, Produkte von mehr als zwanzig verschiedenen Herstellern beteiligt.“ Für das deutschlandweite E-Rezept-System für alle Ärzte und alle Apotheken seien es über 200.
Die TI wurde 2005 konzipiert und beruht damit noch auf alten Ideen. Charité-Digitalchef Gocke sagt: „Smartphones gab es nicht oder hatten damals kaum Leistung und auch Clouds waren noch nicht verfügbar.“

Sie erinnert an eine alte AOL-Box, die sich nur nach einer komplizierten Anmeldung mit dem Internet verbindet. Der Charité-Digitalchef klagt: Oft wüsste er nicht, wen er anrufen muss, wenn die TI ausfällt. „Die Beteiligung vieler Unternehmen an der TI macht es schwierig, die Ursache für Störungen zu finden und einen Verantwortlichen, der sie behebt“, sagt Gocke.

Wie komplex das System ist, zeigt schon der Anschluss. Krankenhäuser oder Arztpraxen müssen umfangreich Hardware anschaffen: Karten, Lesegeräte und spezielle Router, die Konnektoren heißen und an der Steckdose hängen. Der Konnektor ist für die TI so etwas wie ein Torwächter.

Ärzte oder Apotheker stecken zwei Karten in ein Lesegerät, das sich mit dem Konnektor verbindet. Mit einem Heilberufsausweis belegen sie, dass sie einen medizinischen Beruf ausüben. Und mit der Krankenkassenkarte eines Patienten, dass sie auf seine Daten zugreifen dürfen.

Eine Institutionenkarte muss beantragt werden, wird dauerhaft in den Konnektor gesteckt und gibt an, dass sie in einer medizinischen Einrichtung arbeiten. Oft müssen Ärzte und Apotheker noch eine PIN eingeben. Liegen alle Karten und die PIN vor, stellt der Konnektor die Verbindung zu der TI her.
Nicht beliebig viele Personen können ihre Karten in die Lesegeräte schieben, der Konnektor lässt nur eine begrenze Anzahl zu. Das ist besonders umständlich für größere Praxen oder Kliniken. In der Charité stehen deshalb über hundert Konnektoren übereinander in einem Schrank.

Damit die Boxen nicht überhitzen, wird der Schrank gekühlt. Nur so können sich mehrere Hundert Mitarbeiter auf verschiedenen Stationen mit der TI verbinden. „Mit moderner Netzwerktechnik hat das überhaupt nichts zu tun“, sagt Gocke.

Grund für die viele Hardware war die Überlegung: so ist die TI besonders sicher. Es sei kaum möglich, dass eine Karte vom Arzt gestohlen wird und sich ein Unbefugter über ein Lesegerät auf einer Station Zugang zur TI verschafft, sagt Gocke. Zumal die Konnektoren nicht frei auf einer Station stehen dürften, sondern in einer gesicherten Umgebung.

Strenge Sicherheitsvorschriften sind Gocke wichtig, aber: „Die Technik ist für den medizinischen Alltag nahezu ungeeignet.“ Sie raubt Zeit. Und Ärzte haben keine Zeit. Bereits ohne die Karte einzuschieben, bleiben ihnen im Schnitt nur sieben Minuten für eine Sprechstunde.
Bessere Software muss her

Die Gematik tut, was für sie möglich ist. Sie meldet Störungen über ihre Website und einen WhatsApp-Kanal. Auf der Webseite gibt es auch ein TI-Lagebild, das den Status verschiedener Dienste wie dem des E-Rezepts anzeigt. Allerdings wird das Lagebild nicht in Echtzeit, sondern nur alle fünf Minuten aktualisiert. Wiederkehrende Störungen erkennen? Das ist schwer.

Hinzukommt: Nicht alle Anbindungen an die TI werden geprüft, Software für Praxen und Kliniken zum Beispiel nicht. Ob die über 100 Softwareprogramme am Markt alle in der Lage sind, ein E-Rezept auszustellen, weiß keiner.

Hier sieht die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) auch das größte Problem: Der Umgang mit der E-Akte in den Praxen könne nur gut werden, wenn die Praxissoftware verlässlich funktioniert. „Deshalb fordern wir klare Performanz- und Usability-Vorgaben für diese Systeme“, heißt es von der KBV.
Technologische Lösungen stehen bereit

Zu kompliziert, zu fehleranfällig, zu alt: So kann es nicht weitergehen, da sind sich Politiker, Ärzte, Unternehmer und Apotheker einig.

Auf der „Digital Medical Expertise and Applications“ (DMEA), der größten Messe für digitale Medizin in Europa, war die TI auch deshalb ein Thema. Unternehmen wie Rise, Ehealth Experts, Secunet

, Wordline arbeiten an Technologien, die die TI schneller und robuster machen sollen: einem virtuellen Konnektor.

Dahinter steckt ein leistungsfähigerer Konnektor, der nicht mehr in einer Arztpraxis stehen muss, sondern in einem Rechenzentrum oder mit einer Cloud verbunden sein kann. Das TI-Gateway kann dann mehrere Praxen gleichzeitig mit der TI verbinden.

Eine Handvoll Anbieter will bereits dieses Jahr mit der Software fertig werden. Die Frage aber ist: Was bringen neue Produkte, wenn die Struktur der TI zu komplex ist?
Forderung nach einer Reform der Gematik

Das TI-Gateway wäre nur ein Schritt in der Neuausrichtung der TI. Die Gematik will auch eine Alternative für das Einstecken der Karten anbieten und die Sicherheitsstruktur der TI umbauen. Eine grundsätzliche Neuausrichtung der Gematik ist Brancheninsidern zufolge notwendig. Die Selbstverwaltung verlangsame Entscheidungsprozesse.

Die vielen Anteilseigner wie Ärzte- und Apothekenverbände oder Krankenkassen sind sich häufig uneinig. So sträubten sich die Apotheker zuletzt vor „Card-Link“; einem neuen Verfahren, E-Rezepte einzulösen. Es soll in ihren Augen nicht sicher genug sein, aber Beobachter sagen auch: Die Apotheker fürchteten sich vor möglichen Vorteilen für Versandapotheken.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kündigte im vergangenen Jahr ein neues Gesetz zur Umstrukturierung der Gematik an. Viel passiert ist seitdem nicht. Geschäftsführer Markus Leyck Dieken verließ die Gematik vor einigen Monaten. Die Gründe sind unklar, aber es scheint: Der frühere Pharmamanager soll auch gegangen sein, weil er nicht in einer dem Ministerium untergeordneten Behörde arbeiten wollte.
Was passiert noch auf politischer Ebene? Das Bundesgesundheitsministerium teilt mit, dass sich ein Gesetzentwurf derzeit in den Vorbereitungen befinde. Die Gematik soll „zu einer Digitalagentur im Gesundheitswesen“ ausgebaut werden. Insbesondere sollen „Handlungsfähigkeit, Flexibilität, Verbindlichkeit und Durchsetzungskraft im Bereich der Digitalisierung der Gesundheitsversorgung gestärkt werden“.

Das ist auch nötig. Die Zeit drängt, es muss etwas geschehen.

Charité-Digitalchef Gocke warnt: „Deutschland hinkt beim E-Rezept und bei der elektronischen Patientenakte den anderen europäischen Ländern seit Jahren hinterher.“ Dänemark oder Finnland seien Deutschland mehr als zehn Jahre voraus. „Wir brauchen eine nationale Plattform wie die TI – aber in einer moderneren Ausprägung“, fordert er.




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